Hör auf, „Beobachten ohne Bewertung“ als höchste Intelligenz zu feiern – wenn Du den Kontext nicht kennst, der dahinter steht.
Unser Gehirn bewertet permanent.
Bewertung ist unser elementares Grundbedürfnis.
886 Wörter, Lesezeit ca. 3 Minuten
Bewertung ist immer auch eine Selbstoffenbarung.
Wenn ich sage „Das gefällt mir“ oder „Das macht mich wütend“, dann lege ich meine innere Wahrheit offen.
Das ist Verbindung. Das ist echt. Ohne Bewertung würdest Du Dich von Deinem Gefühlskörper abkoppeln und zu einem leeren Beobachterauge mutieren. Wozu? Damit Du erleuchtet wirkst?
Klingt für mich eher nach emotionaler Selbstamputation.
Klar, man kann lernen, die Bewertung nicht sofort wie eine Abrissbirne nach draußen zu schleudern.
Man kann einen Moment Stille reinbringen, bevor man spricht oder handelt.
Aber so zu tun, als sei „Nichtbewerten“ das höchste Ideal, ist ein spiritueller Maulkorb.
Es passt mehr zu Robotern als zu Menschen.
Beobachten ist gut. Aber bewerten macht Dich lebendig.
Ohne Bewertung kein Gefühl, ohne Gefühl kein Kontakt, ohne Kontakt kein Leben.
Dieser Satz wird ständig als Weisheit herumgereicht. Klingt erhaben, ist aber lebensfern.
Denn Fakt ist, Dein Gehirn bewertet ununterbrochen. Das ist kein Fehler, das ist Überlebensintelligenz.
Bewertung ist auch kein „Fehler des Egos“, sondern ein Spiegel Deiner Wahrheit.
Jede Bewertung, die Du innerlich abgibst, ist eine Selbstoffenbarung:
„Das macht mich traurig.“
„Das finde ich schön.“
„Das geht mir gegen den Strich.“
Bewertung trennt Dich nicht vom Leben, sie verankert Dich mitten im Leben.
Darum, hör auf, Dich dafür zu schämen, dass Du bewertest.
Es macht Dich menschlich, nahbar und echt.
Bewerten ist kein Mangel an Spiritualität. Bewerten heißt, dass Du lebst, spürst, wahrnimmst.
Dieser Satz des indischen Philosophen wird ständig wie ein Mantra runtergeleiert, als sei er der Gipfel spiritueller Erleuchtung, für mich ist das die blanke Realitätsverweigerung.
Bewertung lässt Dich spüren
das tut gut
das nervt
das ist gefährlich
das macht mich wütend
das will ich mehr
Alles, was Du bewertest, ist kein Makel, es ist Dein sehr wichtiger Kompass.
Das ist Biologie, Evolution, Überlebenscode.
Stell Dir vor, unsere Vorfahren im Busch hätten „nur beobachtet“ ohne zu bewerten, ob da gerade ein Säbelzahntiger angetrottet kommt.
Sie wären sofort gefressen worden.
Wer Dir erzählt, Du sollst „ohne Bewertung“ leben, der predigt Gefühlsamputation. Roboterlogik.
Das ist Fake-Spiri.
Spiritualität, die Dich von Deinen Gefühlen trennt, ist Missbrauch von Sprache.
Echtes Bewusstsein bedeutet nicht, „alles neutral“ zu finden.
Es bedeutet, Deine Bewertungen wahrzunehmen, zu reflektieren und Verantwortung für sie zu übernehmen.
Dieser Klischee-Spruch, der unreflektiert von so vielen einfach übernommen und nachgeplappert wird, klingt nach Erleuchtung, ist aber in Wahrheit einfach nur bequem. Außerdem ist er eine knallharte Bewertung, ein Urteil!
Wenn Du „nur beobachtest“ und alles brav „bewertungsfrei“ hinnimmst, dann musst Du keine Haltung einnehmen.
Du musst Dich nicht positionieren, keinen Standpunkt vertreten, keine Verantwortung übernehmen.
Du kannst in Deiner Wohlfühlblase bleiben und so tun, als stündest Du über den Dingen.
Fortschritt entsteht niemals durch neutrale Beobachtung.
Fortschritt entsteht, wenn Du eine Bewertung triffst und dann handelst.
Bewertung heißt, ich will das eine und das andere nicht.
Ich unterscheide, ich ziehe Grenzen, ich wähle aus.
Ohne das gäbe es keine Ziele, keine Willenskraft, keine Entwicklung.
Das, was Menschen sich innigst wünschen, ist, gesehen zu werden, etwas zu bewirken, zu wachsen und das braucht das genaue Gegenteil, nämlich klare Bewertungen.
Erst wenn Du sagst:
das will ich nicht mehr,
das will ich unbedingt,
das ist falsch für mich,
das ist richtig für mich,
… entsteht diese Kraft, die Dich vorantreibt.
Sie ist ein Ausdruck meiner Wahrnehmung, meiner Haltung, meines Habitus. Das macht mich zum Menschen.
Aber: Fortschritt entsteht nicht durch neutrale Beobachtung. Fortschritt entsteht durch klare Bewertungen.
Bewertung heißt: Ich unterscheide.
Bewertung heißt: Ich ziehe Grenzen.
Bewertung heißt: Ich wähle aus, ich positioniere mich.
Genau dadurch entfaltet sich Willenskraft. Genau dadurch entstehen Ziele, dadurch geschieht Differenzierung, Entwicklung, Wachstum.
Wer alles immer nur „neutral beobachtet“, bleibt Zuschauer.
Wer aber klar sagt:
Das will ich, das will ich nicht, das entspricht meinen Werten oder
das widerspricht mir, der steigt wirklich in die Arena des Lebens.
Und Hand aufs Herz, ist es nicht genau das, wonach wir uns alle sehnen?
Wir wollen gesehen werden, wir wollen wirken, wir wollen gestalten.
Das geht nicht durch Beobachten ohne Bewertung, sondern durch klare Entscheidungen.
Denk mal nur an Social Media, geht überhaupt nicht ohne Bewertung!!!
Eine Like-Bewertung-Daumen nach unten -Bewertung, viele Follower-Bewertung, Proven Expert-Bewertung, Algorithmus-Bewertung, Klicks auf youtube-Bewertung, beim Arzt: gesund, etwas angeschlagen, krank, schwer krank, unheilbar krank-Bewertung, Du entscheidest Dich für ein Programm oder Produkt- Bewertung, schön, hässlich, lieb, sympathisch-alles Bewertungen, Dein Maßstab. Punkt.
Wir alle sind süchtig nach Bewertung, das ist unser aller Ziel, wir wollen die Einzige oder Beste für unseren Schatz sein, die beste Mami der Welt, das intelligenteste Kind haben, die beste Schule fürs Kind finden, den besten Mentor finden, Stiftung Warentest-Bewertung, usw. usw. -auf jeden Fall möchten wir alle etwas Schlechtes vermeiden.
Sag mir, wie willst Du durchs Leben gehen, ohne Bewertung?
Ein Mensch ohne Bewertung ist kein Gestalter, sondern ein Zuschauer.
Ich behaupte: die höchste Form menschlicher Intelligenz ist es, klar Stellung zu beziehen.“
Bewertung ist kein Fehler, sie ist der Motor Deiner Selbstbestimmung.
Es geht darum, dass Du Deine Wahrnehmung ernst nimmst.
Dass Du anerkennst, was Dich triggert, was Dich begeistert, was Dich wütend macht.
Weil genau da Dein Schlüssel liegt, Neutralität lähmt, Bewertung bewegt.
Doch eines fehlt noch zum Abschluss: Krishnamurti meinte diese Aussage ganz anders, als sie in der pseudo-spirituellen Szene gerne missbraucht wird. Der Satz steht nicht für sich allein. Er hat Kontext. Seine Bedeutung erschließt sich über die dazugehörige Rede. Als Schlagzeile wie in einem Klatschblatt hat der Satz keinen Wert, war vom Autoren aber auch nie so gedacht. „Beobachten ohne zu bewerten“ ist im entsprechenden Kontext ein Tool zu Weisheit und Bewusstwerdung. Doch so, wie der einzelne Satz herumgereicht und ausgelegt wird, ist er bestenfalls dazu geeignet, Dich in eine Sekte zu ziehen.
Jetzt freue ich mich über Deine Bewertung dieses Artikels, egal, wie sie ausfällt 😊
Mein Lieblingpart:
Spiritualität, die Dich von Deinen Gefühlen trennt, ist Missbrauch von Sprache.
Echtes Bewusstsein bedeutet nicht, „alles neutral“ zu finden.
Klasse Denkanstoß, fühl ich, gehe da aus diesem Blickwinkel heraus total mit und dass es meist Roboter Artig auch nur zitiert wird ohne zu verstehen was es aussagt. Allerdings ist dieser: „nicht bewerten Aspekt“ meist damit verknüpft, dass man das Verhalten anderer nicht verurteilen sollte. Weil es deren Weg ist, deren Wahl, deren Leben und daher deren Entscheidungen.
Leider wird vieles zu totalitär gesehen und verstanden und einfach dann ohne Ausnahmen über alles drüber gebügelt..
Je HD Definitionen, fällt es zuvielen einfach schwer, Dinge zu abstrahieren, auf unterschiedlichen Ebenen wahrzunehmen und somit auch ihre „Teil-Wirksamkeit“ zu erkennen. Das wäre die Lösung für soviel weltliches…wenn man anerkennen würde,dass da nie jemand von Wahrheiten sondern von Blickwinkeln spricht, nur Anreize geben kann, aus seiner Warte heraus, innerhalb seines Lebenstunnels. Lg und danke für den Beitrag